Kernel Theory

Was ist eine Kernel Theory?

Bearbeitet durch Bijan Khosrawi-Rad und Anna Lux

Die Frage nach dem WARUM: Kerntheorien zur Erklärung des Artefakts

Im Allgemeinen versteht man unter einer Theorie eine Sammlung von allgemeinen Aussagen zu bestimmten Phänomenen, d. h. zu einem bestimmten Ausschnitt der realen Welt (Popper 1959). Durch Theorien lassen sich Sachverhalte voneinander unterscheiden und strukturieren; sie helfen dabei, Phänomene zu verstehen, indem sie eine Basis für Erklärungen oder Vorhersagen bieten (Walls et al. 1992).

Im Kontext der Gestaltung des DSR-Artefakts braucht es eine Erklärung dafür, warum ein Artefakt so konstruiert ist, wie es ist und warum es funktioniert (Kuechler und Vaishnavi 2008). Die Frage nach dem “Warum” können Theorien beantworten: sie liefern ein Basiswissen darüber, wie sich z. B. (materielle) Objekte verhalten, wie Prozesse und Ziele miteinander verbunden sind oder wie Formen und Materialien einander beeinflussen. Diese Theorien zur Erklärung von Phänomenen werden “kernel theories” genannt und aus Disziplinen außerhalb der Information Systems (IS) sowie aus bereits bestehenden Erkenntnissen der IS-Forschung herangezogen. In Abhängigkeit des Artefakts können Kerntheorien in Grad, Tiefe und Herkunft variieren und sich auf Produkte oder Prozesse, Dinge oder Menschen beziehen. Sie stammen z. B. aus Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Verhaltenswissenschaften oder Design (Gregor und Jones 2007, Kuechler und Vaishnavi 2008).

Kerntheorien als Beitrag der Gestaltungstheorie

Innerhalb der Literatur zur gestaltungsorientierten Forschung der Information Systems gibt es unterschiedliche Meinungen über die Beziehung zwischen Artefakt, Gestaltungstheorien und Kerntheorien (Fischer et al. 2010). Einerseits kann die Konstruktion des Artefakts auf vorhandenen Kerntheorien aufsetzen und das Artefakt somit begründen. Des Weiteren können Kerntheorien innerhalb des Projektes weiterentwickelt werden müssen, um eine Anpassung an den Kontext zu erfahren, ehe auf dieser erweiterten Version das Artefakt entwickelt werden kann. In diesem Zwischenschritt werden die Kerntheorien zu sogenannten “mid-range theories”, die als wesentlicher Beitrag zur Designtheorie eingehen und über eine erklärende Funktion hinausgehen (Kuechler und Vaishnavi 2012). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Gestaltungstheorien selbst zu Kerntheorien werden können.

Abbildung entnommen aus Kuechler und Vaishnavi (2012, S. 399)
Abbildung entnommen aus Kuechler und Vaishnavi (2012, S. 399)

Letztlich sehen Walls et al. (1992), Gregor (2006), Gregor und Jones (2007) sowie Kuechler und Vaishnavi (2008, 2012) Kerntheorien als einen wesentlichen Bestandteil von Gestaltungstheorien an und haben diesbezüglich viele DSR-Projekte der vergangenen Jahre in der Umsetzung geprägt. Für Autor:innen wie Hevner et al. (2004), March und Smith (1995) oder Goldkuhl (2004) ist die Verwendung von Kerntheorien nicht obligatorisch; sie heranzuziehen kann aber hilfreich und sinnvoll sein. Letztlich liegt die Entscheidung somit bei euch und ist abhängig vom Charakter eures DSR-Projekts. Auf anwendbares Wissen aus Theorien, Frameworks oder Methoden zurückzugreifen, kann euch darin unterstützen, die Rigorosität zu gewährleisten. Die Betrachtung von Kernel-Theorien kann zu einer besseren Gestaltung eures Artefakts führen und zusätzlich eine Basis für die wissenschaftliche Fundierung darstellen.

Beispiele für Kerntheorien

  • Chiang und Mookerjee (2004) bauen ihre Politik der Fehlerschwellen aus dem Wissen über Gruppenkoordinationsprozesse, Team-Kognition, Softwareentwicklungsproduktivität und Fehlerwachstumsmodellen auf.
  • Ein aktuelles Beispiel aus der Mensch-Maschinen-Interaktion ist bei Diederich et al. (2022) zu finden: In dieser Publikation werden als ein Teil der Literaturanalyse Kerntheorien für die Gestaltung von Conversational Agents dargelegt.

Schritt für Schritt zu den passenden Kerntheorien

Aber wie finde ich denn nun die Kerntheorien für mein Forschungsgebiet? Hierzu ist vor allem Literaturarbeit erforderlich. Systematische Literaturanalysen stellen eine im Kontext der DSR geeignete Möglichkeit dar, um Literatur zu einem aktuellen Forschungsthema zu erfassen. Eine strukturierte Kodierung der erfassten Literatur mit MAXQDA oder Excel ermöglicht es, die Theorien strukturiert festzuhalten. So bietet es sich an, die Theorieteile (in vielen Publikationen “Theoretical Grounding” genannt) der bestehenden Literatur zu dem Forschungskomplex in Hinblick auf die Verweise auf grundlegende Theorien zu analysieren. Indem dies systematisch erfolgt, ist es möglich, zu identifizieren, wo bestimmte Forschungsströme ihren Ursprung haben und wo sie in Zukunft hinführen könnten. In umfangreichen Literaturanalysen bietet es sich an, diese Theorien im Nachhinein zu clustern, sofern viele Theorien aus einem ähnlichen Bereich stammen. Auch wenn ein strukturiertes Vorgehen der gängige Weg ist, ist es nicht die einzige Möglichkeit: Eine semi-strukturierte Literaturanalyse stellt ebenfalls eine Möglichkeit dar, geeignete Theorien schnell und mit präzise gewählten Suchkriterien in den wissenschaftlichen Datenbanken zu erfassen. Dabei ist es wichtig, vielfältige Datenbanken und Suchbegriffe / Kombinationen aus Suchbegriffen zu verwenden: Da Kerntheorien aus verschiedenen Disziplinen stammen können (bspw. Sozialwissenschaften, Psychologie), könnte einer Suche in rein auf die Information Systems Research beschränkten Datenbanken womöglich das Forschungsgebiet nicht allumfassend abdecken. So ist es für eine interdisziplinäre Analyse notwendig, zu definieren, aus welchen Disziplinen Kerntheorien für einen Forschungsbereich stammen können, geeignete Datenbanken für diese verschiedenen Bereiche zu identifizieren, und dann geeignete Suchterme sowie Ein- und Ausschlusskriterien festzulegen. Möchte man z. B. Kerntheorien für Chatbots zur Unterstützung von Studierenden identifizieren, könnten Datenbanken aus Disziplinen wie Informatik, Wirtschaftsinformatik, Mensch-Maschinen-Interaktion, Medienwissenschaften, Sozialwissenschaften, Psychologie, oder Pädagogik Anhaltspunkte liefern. Ein geeignetes Framework zur Vereinfachung dieses Suchprozesses zur Planung der Recherche bieten Schoorman et al. (2021).

Dabei ist allerdings Vorsicht geboten: Nicht jede identifizierte Theorie ist auch unbedingt eine Kerntheorie. So ist zunächst zu prüfen, ob überhaupt die Komponenten einer Theorie erfüllt sind. Hierzu stellt Gregor (2006) verschiedene Komponenten dar:

Abbildung entnommen aus Gregor (2006, S. 620)
Abbildung entnommen aus Gregor (2006, S. 620)

Zudem ist es wichtig zu beachten, dass nicht jede Theorie 1:1 auf einen anderen Forschungskontext übertragbar ist. So können Theorien der Mensch-Mensch-Beziehung bspw. dazu dienen, Phänomene der Mensch-Maschinen-Beziehung zu erklären, jedoch kann dieses veränderte Kontextumfeld womögliche weitere Variablen besitzen, welche auf die Anwendbarkeit der Theorie einen Einfluss haben. Vaishnavi & Kuechler (2015, S. 92) schreiben dazu:

“Beyond that, we propose that “kernel theories” from other fields are often so narrowly derived as to be more suggestive than useful as given, and that refinement of the theory in the act of development is required to give the theory direct applicability to IS design efforts (Carroll and Kellogg, 1989)“.

Somit ist es wichtig, die Übertragbarkeit der Theorien auf den eigenen Forschungskontext zu überprüfen, ggf. Anpassungen vorzunehmen, und durch weiterführende Studien das auf Basis der Kerntheorien entstandene Gestaltungswissen zu evaluieren sowie zu überarbeiten. Hierzu eignet sich sowohl das Einbeziehen von Expert:innen durch Interviews oder Workshops als auch die Evaluation der gestalteten Artefakte mit möglichen Nutzer:innen.

Literatur

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